Das Wattenmeer zwischen Postkartenidylle und Überlebenskampf

Wir haben das internationale Weltnaturerbe Wattenmeer besucht, das sich von Holland über Deutschland bis nach Dänemark erstreckt. Auf einer Wattwanderung mit dem Freiwilligenteam von der Schutzstation Wattenmeer haben wir viel Interessantes, Überraschendes und Lehrreiches über die Flora und Fauna dieses einzigartigen Lebensraumes gelernt.

Salzwiesen und Leuchtturm

„Einen besseren Zeitpunkt hättet Ihr gar nicht erwischen können“, flachst Rainer Schulz, der Leiter der Schutzstation Wattenmeer von Westerhever. Schließlich sei gerade „Frisian Summer“. Die kreative Anspielung auf den Indian Summer in Neuengland und seinen farbenfrohen Herbst können wir bald vom Leuchtturm mit eigenen Augen bestaunen. Die Salzwiesen vor uns leuchten in gelbgrünroten Farben. Ein herrlicher Ausblick!

Wattenmeer und Salzwiesen

Blick vom Leuchtturm Westerheversand auf die Salzwiesen des Wattenmeeres.

Die Salzwiesen liegen zwischen dem Watt und dem Deich und werden mehr oder weniger regelmäßig von der Flut überspült. Sie bilden damit buchstäblich einen fließenden Übergang zwischen Meer und Land. Das Faszinierende ist der Überlebenskampf, der auf diesen Wiesen täglich stattfindet. Durch das Wechselspiel von Erosion und Sedimentation ändert sich das Lebensumfeld mehrmals täglich radikal: überschwemmt und trocken sowie warm und kalt. Der Boden wird darüber hinaus ständig in Bewegung gehalten. Nicht wirklich gute Voraussetzung für Leben. Vom Salzgehalt ganz zu schweigen. Und dennoch bietet das Watt einen Lebensraum für mehr als 10.000 Tier- und Pflanzenarten.

Pflanzen und Insekten im Wattenmeer

„Nur wenige Pflanzen haben sich evolutionär durchgesetzt, die steten Überschwemmungen mit Salzwasser zu überleben“, berichtet Rainer Schulz fasziniert. Einer dieser erstaunlichen Überlebenskünstler ist der Queller, der auch für die derzeitige Farbenpracht verantwortlich sind.

Salzwiese

Queller-Pflanzen (Salicornia) besiedeln erfolgreich Wattböden der Meeresküsten sowie auch salzige Böden im Inland.

Diese Salzpflanzen nehmen zusätzliches Wasser auf, um die Salzkonzentration auf ein überlebensfähiges Maß zu reduzieren. Ihre Lebenszeit ist dennoch auf nur etwa sechs Monate begrenzt bis ihre Nachfolger im kommenden Jahr erblühen. Weniger ein Problem für die Flora als vielmehr für die Fauna ist der fehlende Sauerstoff bei der Flut. Die über 2.000 Arten von Salzwieseninsekten haben jedoch auch hierfür unterschiedliche Lösungen parat. Einige verankern sich am Boden und zehren von einer Luftblase unter ihrem Körper oder leben gleich im Pflanzeninneren – andere wiederum graben tiefe Gänge und sichern sich damit den notwendigen Sauerstoff. Im schlimmsten Fall surfen sie auf dem Wellen zum Land und krabbeln bei Ebbe wieder zurück.

Leuchtturm bei Flut

Der Leuchtturm von Westerhever ist bei einer Sturmflut komplett von Wasser umschlossen. Ein Schwarm Knuttstrandläufer sucht nach einem Platz zum Landen.

Eine andere Anpassungsstrategie mag uns zwar ziemlich rabiat erscheinen, aber so ist eben die Natur. Es ertrinken bei der Sommerflut nämlich nur 90 % der Insekten – und keine 100 %. „Das Leben an der Küste ist eben hart…“, resümiert Rainer Schulz.

Die Tierwelt des Wattenmeeres

Beim Durchstreifen des Watts zuckt der Biologie und reißt plötzlich seine Kamera in die Höhe. „Ein Seeadler“, flüstert er triumphierend und schießt eifrig Fotos.

Seeadler

Die majestätischen Seeadler erreichen eine Flügelspannweite von bis zu 2,44 Meter.

„Der Seeadler war durch die Jagd und den Einsatz des Insektizids DDT in Deutschland fast ausgerottet“, berichtet der Stationsleiter, „doch im letzten Jahr konnte man am Wattenmeer wieder 10-15 Paare zählen!“ Die gewaltigen Greifvögel machen sogar vor den kiloschweren Brandgänsen nicht halt.
Andere Vogelarten konnten weniger erfolgreich geschützt werden. „19 von 29 Arten typischer Küstenvögel zeigen teils deutlich sinkende Bestände“, mahnt der Biologe. Dieses traurige Phänomen sei oft gepaart mit dem geringen Bruterfolg.

Brutgebiet

Großflächige Absperrungen sollen den Vögeln die notwendige Ruhe bei der Brut und Aufzucht gewähren. Doch Sommerfluten und eingeschleppte Feinde wie Mink und Marderhund sowie heimische Füchse und Marder lassen sich damit leider nicht abschrecken.

Es ist ein ewiger Kampf für den Schutz der Tiere. „Einst bot das Meer hier auch Seepferdchen, Rochen und sogar bis zu drei Meter langen Stören ein Zuhause“, sinniert Rainer Schulz, „Seit der Mensch in der Lage ist, die Umwelt massiv zu verändern, hat sich weltweit die Geschwindigkeit des Artensterbens verhundertfacht.“ Der intensive Fischfang, der gestiegene Seeverkehr und der globale Klimawandel sind nur einige der Faktoren, die das Artensterben fördern.

Die Sonne wandert langsam zum Horizont. Zu den großen Meeressäugern des Wattenmeers wie den Kegelrobben und Seehunden oder gar Schweinswalen schaffen wir es heute leider nicht mehr – wer hätte gedacht, dass es hier so viel zu sehen und zu erleben gibt. Wir kommen sehr gerne wieder!

Nationalpark Wattenmeer

Vielen Dank noch einmal dem großartigen Freiwilligenteam von der Schutzstation Wattenmeer!